Friedenskonferenz 2007 - Gegen die EU-Militarisierung

Beitrag für AG IV: Strukturen des Militarismus

Konferenz gegen EU-Militarisierung, Wiesbaden 1./2. März 2007

 

Rekrutierung von Menschen für Krieg und mögliche Gegenstrategien

Die wenigsten Menschen ziehen aus Begeisterung in den Krieg. Selbst wenn sie einen Krieg politisch gutheißen, bedeutet das noch lange nicht, dass sie selbst darunter leiden oder gar im Verlauf der Kriegshandlungen getötet oder verwundet werden wollen. Deshalb werden Soldaten und Soldatinnen primär über Zwang oder über ökonomische Anreize oder ökonomischen Druck rekrutiert.

Modelle der Rekrutierung

Bis 1990 war Europa bezüglich Militärdienstpflicht[1] klar eingeteilt. Auf der einen Seite standen Großbritannien und Irland. Das Vereinigte Königreich hatte die im 2. Weltkrieg eingeführte Dienstpflicht 1960 abgeschafft, in Irland und Nordirland hatte sie nie bestanden.

In Kontinentaleuropa waren 1989 nur Kleinststaaten sowie Gebiete mit Sonderstatus wie West-Berlin frei von jeglichem Kriegsdienstzwang. Bis Ende der 1980er Jahre war in den nicht-kommunistischen Staaten Europas mit Dienstpflicht die Möglichkeit der Militärdienstverweigerung eingeführt worden verbunden mit Ableistung eines Ersatzdienstes, mit Ausnahme der Schweiz, Griechenlands und der Türkei.

In den 1990ern begannen, beginnend mit Belgien 1995 einige Staaten Westeuropas, den Kriegsdienstzwang auszusetzen oder abzuschaffen. Mit der Abschaffung der Kriegsdienstpflicht in Rumänien Ende 2006 reicht die Zone der kriegsdienstzwangfreien Staaten vom Atlantik bis ans Schwarze Meer. Bulgarien hat die Abschaffung des Zwangs für 2008 beschlossen. Den Anspruch auf Zwangsrekrutierung haben die Staaten aber nicht aufgegeben. In den Niederlanden ist der Zwang nur ausgesetzt. Dort unterliegen alle Männer der Militärerfassung, die Einberufungen können jederzeit wieder aufgenommen werden. In Frankreich demonstriert der Staat seinen Rekrutierungsanspruch mit einer eintägigen vom Militär durchgeführten Pflichtveranstaltung namens Journée d'appel de préparation à la défense für alle Jugendlichen beiderlei Geschlechts zwischen 16 und 18 Jahren.

Das traditionelle System mit Berufssoldaten als Kern der Armee mit Zwangsverpflichteten als Verstärkung besteht in der EU in den Ländern rund um die Ostsee, in Österreich, Griechenland und Zypern.

Die Abschaffung des Kriegsdienstzwangs ist kein Zeichen von Friedfertigkeit oder gar ein Erfolg der Friedensbewegung. Lediglich für Spanien, wo infolge der weltweit einmalig großen Totalverweigerungsbewegung jährlich Hunderte politisch äußerst aktive Kriegsdienstverweigerer inhaftiert wurden, kann angenommen werden, dass dieser massive Widerstand die Entscheidung des Staates beeinflusst hat. Es geht um Professionalisierung und Modernisierung des Militärs mit dem Ziel der Umwandlung in Interventionsarmeen, die mit wenig, aber gut ausgebildetem und motiviertem Personal weltweit einsetzbar sein sollen. Die Rekrutierung erfolgt über Freiwilligkeit und ökonomische Anreize, die in Zeichen wachsender Armut immer mehr zum ökonomischen Druck werden. Professionalisierung ohne Kriegsdienstzwang bedeutet dabei auch die Abkehr von zwei traditionellen Funktionen des Militärs: Es ist nicht mehr die Schule der Nation und Sozialisationsinstanz für die männliche Bevölkerung, es ist auch nicht der Hüter der Nation, der notfalls interveniert oder putscht.

In Deutschland werden beide Rekrutierungsformen parallel und ineinandergreifend praktiziert. Angesichts der geringen Personalstärke der Bundeswehr kann sie nur noch eine Minderheit der zur Verfügung stehenden Kriegsdienstpflichtigen einberufen. Einerseits werden in der Gewissensprüfung Militärdienstverweigerer sehr bereitwillig anerkannt werden, weil dadurch Zivildienstleistende gewonnen werden, die ansonsten mangels Kapazität der Bundeswehr keinen Dienst leisten würden. Andererseits entgeht etwa die Hälfte der männlichen Jugendliche beiden Kriegs- und Zwangsdiensten. Niemand sollte sich aber darüber hinwegtäuschen, dass ohne jegliche Gesetzesänderung genauso wie jetzt fast alle Anträge auf Militärdienstverweigerung anerkannt werden genauso gut fast alle abgelehnt werden könnten, wenn sich die Umstände und die Interessen des Staates ändern. 2007 sollen auch die Einberufungen zur Bundeswehr wieder steigen.

Langzeitarbeitslose unter 25 - das ist auffälligerweise die Regelaltersgrenze für Einberufungen zur Bundeswehr – müssen gemäß den Hartz-IV-Regelungen jede zumutbare Arbeit annehmen, sonst droht die Streichung des Arbeitslosengeldes II, und sie können gezwungen werden, bei ihren Eltern zu wohnen. Zwar ist noch kein Fall bekannt geworden, dass die Weigerung, sich bei der Bundeswehr zu verpflichten, zu einer solchen Streichung geführt hätte, aber der Druck ist groß und kann vergrößert werden. Hinzu kommen die schleichend wachsende Präsenz der Bundeswehr in Arbeitsagenturen und sogenannte Wehrdienstberatungen in zivilen Gebäuden wie Rathäusern.

Gegenstrategien

Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen bringt mehrere Nachteile mit sich: Historisch geht sie auf Ausnahmeregelungen für Angehörige christlicher gewaltfreier Sekten wie den Mennoniten zurück, die oft auch geographisch isoliert von der Gesamtgesellschaft lebten. Unter den historischen Friedenskirchen waren es vor allem die Quäker, die sich nicht mit einer Sonderregelung nur für sich selbst zufrieden gaben, sondern mit ihrem politischen Engagement entscheidend dazu beitrugen, dass die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen auf breitere Personenkreise ausgedehnt wurde. Aber konzeptionell hat sich wenig geändert. Um als Militärdienstverweigerer anerkannt zu werden, muss auch ein säkularer Antragsteller tendenziell dem Bild des christlichen absolut Gewaltfreien entsprechen. Anerkannt wird, wer aus Gewissenszwang nicht Kriegsdienst leisten kann. Nicht anerkannt wird derjenige, der zwar Kriegsdienst leisten könnte, es aber nicht will. Entscheidend ist nicht der Wille des Individuums, sondern das Urteil von Staat und Militär, ob Gewissensgründe vorliegen. Hinzu kommt, dass die Verweigerer einen Ersatzdienst leisten müssen, der nicht nur Freiheitsberaubung und Ausbeutung bedeutet, sondern in die staatliche Kriegsplanung eingebunden ist. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist im Vergleich zu Militärdienst, Gefängnis, Todesstrafe und Exil eine überlebenswichtige humanitäre Erleichterung, es ist aber kaum ein Mittel zur Kriegsbehinderung, sobald die Herrschenden gelernt haben, damit umzugehen.

Kriegsdienstverweigerung, die aus der Gewissensfreiheit und nicht vom Recht auf Leben und Freiheit abgeleitet wird, muss notwendigerweise ein Ausnahmerecht für Menschen mit einer bestimmten Motivation oder einem bestimmten Persönlichkeitsbild bleiben. Damit wird garantiert, dass es immer Menschen geben wird, die mangels nachweisbarer Gewissensentscheidung und mangels der erwünschten Persönlichkeitsmerkmale zum Militär gezwungen werden können. Eine solche Personalbestandsgarantie fürs Militär kann aus pazifistischer Perspektive nicht erstrebenswert sein. Wer die Abschaffung von Krieg und Militär als Ziel hat, kann nicht wollen, dass auch nur eine einzige Person, egal wie gewissensmotiviert oder gewissenlos sie ist, Militärdienst leistet.[2]

Wer Krieg und Militär ablehnt, müsste sich konsequent für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung einsetzen, das allen Menschen unabhängig von Gesinnung und Motivation und ohne jede Bestrafung zusteht. Das allein wird nicht den Weltfrieden bringen, ist aber eine unabdingbare Voraussetzung.

Über die Verweigerung von Militärdienst und Militärersatzdiensten sollten dabei auch andere Formen des Kriegsdienstes nicht vergessen werden, wie Dienstverpflichtungen aufgrund von Notstandsgesetzen oder Arbeit in der Rüstungsindustrie.

Da in der EU immer mehr über ökonomischen Druck rekrutiert wird, muss die Friedensbewegung auf die Menschen zugehen, die nicht antimilitaristisch motiviert sind und es aus primär wirtschaftlichen Gründen in Erwägung ziehen, zum Militär zu gehen oder sich schon dort befinden: Die Friedensbewegung in den USA praktiziert schon lange und professionell Counter Recruitment oder Gegenrekrutierung. Dabei wird zunächst nicht politisch und moralisch argumentiert, sondern es wird sachlich aufgeklärt. Die oft irreführenden oder falschen Behauptungen der Militärwerber, die viel versprechen und die Gefahren drastisch herunterspielen, werden mit der Realität konfrontiert. Damit haben wir in Deutschland so gut wie keine Erfahrung, und die Umstände sind auch nicht oder noch nicht so dramatisch wie in den USA, da die Todesrate unter Bundeswehrangehörigen im Auslandseinsatz etwa den Todesfällen bei Manövern entspricht. Es ist eher die Traumatisierung, die Kriegseinsätze vom bisherigen militärischen Normalbetrieb unterscheidet.

Ein gewaltiger Nachteil für die Gegenrekrutierung hierzulande ist die Existenz des Kriegsdienstzwangs. Das zeigt sich vor allem bei Menschen, die für sich keine berufliche Perspektive sehen und in Betracht ziehen, eventuell zum Militär zu gehen, aber unentschlossen sind. In einem Staat ohne Kriegsdienstzwang müssen sie lediglich nichts tun, um dem Militär zu entgehen. In Deutschland ist es umgekehrt: Wer als Kriegsdienstpflichtiger nichts tut, landet mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bei der Bundeswehr. Wenn keine beruflichen Alternativen in Aussicht sind und wenn die Einberufung sowieso unvermeidlich erscheint, liegt es nahe, sich nicht dagegen zu wehren oder sich sogar für längere Zeit zu verpflichten.

Die Strategie der Gegenrekrutierung muss zwangsläufig mit einer Politik gegen Sozialabbau, Verarmung und Verelendung verbunden werden.

Gernot Lennert
(Bildungswerk Hessen der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte  KriegsdienstgegnerInnen)

 


[1]              Der Begriff Wehrpflicht ist doppelt irreführend, unzutreffend und ideologisch einseitig. In Bezug auf das zwischenstaatliche Verhältnis suggeriert Wehrpflicht, dass die Kriegsdienstleistung der Verteidigung diene. Allerdings haben auf Basis der Wehrpflicht sogenannte Wehrdienstleistende schon viele Angriffskriege geführt. Das gilt vor allem für Deutschland, dessen „Wehrdienstleistende“ seit Gründung des Staates 1871 noch nie einen Verteidigungskrieg geführt haben. Im Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Staat ist der Begriff ebenfalls abwegig. Wehrdienst leisten gerade diejenigen, die sich am wenigsten gegen die Zwangsrekrutierung zum Militär zur Wehr setzen.

 

[2]              Mehr dazu in meinen Artikel: „Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung: Ein Widerspruch.“ Erscheint demnächst in einem Buch des Oppo-Verlags, Berlin.

 

Letztes Update: 10.03.2007, 08:38 Uhr